Turmblasen

Einstiegsinformation

Teilnehmer beim Turmblasen.

Beim Turmblasen handelt es sich um einen christlichen Brauch, bei dem von einem Kirchturm aus Blasmusik ertönt, wobei sich die Zuhörer auf dem Kirchplatz bzw. unmittelbar vor dem Turm sammeln. Während die Ursprünge des Turmblasens im Aufgabenbereich des inzwischen verschwundenen Beruf des Türmers anzusiedeln sind, wird der Brauch heute von Blasmusikern unterschiedlichster Herkunft und oft in Verbindung mit dem Weihnachtsfest ausgeübt.

 Ablauf

Das Turmblasen hat für viele Teilnehmer einen ritualartigen Charakter. Jedes Jahr am gleichen Tag und zur gleichen Uhrzeit versammeln sich die Zuhörer vor dem Kirchturm, um von dort aus den Klängen einer Blaskapelle zu lauschen, die sich oben im Turm oder aus Platzgründen immer häufiger – in unmittelbarer Nähe dazu befindet. Zumeist wird auf den Ausschank von Getränken oder den Verkauf von Speisen verzichtet und der Brauch an sich steht im Mittelpunkt. Gelegentlich finden sich aber die für die Jahreszeit typischen Glühweinstände. Schließlich ist es im Dezember meist empfindlich kalt.

Die genaue Prozedur unterscheidet sich von Gemeinde zu Gemeinde. Oft wird das musikalische Angebot um weitere Instrumente oder das gesamte Programm um kurze Reden, Vorträge und einen Chor erweitert. Obwohl sich grundsätzlich auch die Zeitpunkte des Turmblasens in den verschiedenen Gemeinden unterscheiden, findet der Brauch häufig an den Adventssonntagen und am Heiligen Abend statt. Dementsprechend werden vermehrt Weihnachtslieder gespielt und gesungen. Besonders diese Gesangseinlagen erfreuen sich großer Beliebtheit, da das Publikum hier aktiv teilnehmen und mitsingen kann. Ein weiteres Merkmal des ritualartigen Ablaufs ist der Umstand, dass es in vielen Städten üblich ist, sich stets möglichst exakt an der gleichen Stelle vor der Kirche zu versammeln. In der Folge haben die Besucher Jahr für Jahr und Termin für Termin die gleichen Menschen neben sich stehen und es entsteht so eine familiäre Atmosphäre. Dies beschreibt Vincenz Rodenberger, der über das Turmblasen in Menden (Sauerland) berichtet, so:

Und das Publikum, wir die Mendener? Wir sind einfach immer da. Immer rechtzeitig. Nie zu spät. Und sehr wichtig: Immer am gleichen Platz. Immer dieselben Mendener neben sich. Selbst, wenn man sich nur einmal im Jahr sieht. Heiligabend ist man da.

Überhaupt hat das Turmblasen gerade bei Familien einen hohen Stellenwert, da es als Bestandteil des Weihnachtsfests begriffen wird und ähnlich wie der Kirchgang am heiligen Abend ein festes Ritual ist.

Varianten

Im Wesentlichen ähnelt sich das Turmblasen in den meisten Orten stark. Unterschiede lassen sich zumeist in der Liedauswahl ausmachen, wobei wegen der engen Verknüpfung zu Weihnachten und der christlichen Kirche in der Regel Weihnachts- und Kirchlieder dargeboten werden.

Hintergrund-Infos

Allsonntägliches Turmblasen.

Der Brauch ist, obwohl er heute so bezeichnet und eingeordnet wird, im eigentlichen Sinne kein religiöser. Im Laufe der Zeit wurde er allerdings immer mehr mit christlichen Festtagen verknüpft. Inzwischen hat das Turmblasen nur noch einen festlichen Charakter und die Musiker begeben sich lediglich anlässlich dieses speziellen Brauchs auf den Kirchturm. Betrachtet man aber die Geschichte des Turmblasens, so stellt sich die Funktion des Turmbläsers bzw. des so genannten Türmers ganz anders dar: Es ist in zahlreichen Schriften historisch belegt, dass die meisten Städte und Gemeinden etwa vom 13. bis 18. Jahrhundert einen „Türmer“ beschäftigten, dessen Aufgabe zunächst nicht das Musizieren, sondern das Wachen über die Stadt war. Eine der wichtigsten Aufgaben dieses Amts war die Feuerwache. Durch seine exponierte und einzigartige Stellung im Turm hoch über der Stadt konnte der Türmer im Brandfall mit einen Horn oder vergleichbarem Instrumentarium ein Warnsignal ertönen lassen und so auf einen Brand aufmerksam machen. Gleichzeitig konnten die Türmer auch heranrückende Feinde erspähen und so die übrigen Bewohner vor den verschiedensten Gefahren warnen. Oft war es auch Teil des Berufs, Besucher der Stadt mit einem Hornsignal repräsentativ für die Einwohnerschaft zu begrüßen. Auch hier kann vermutet werden, dass dies außerdem zum Schutz der Einwohner diente – Wann immer sich jemand den Toren näherte, ertönte ein Signal. Da die Pfarrkirchen in den meisten Städten über die höchsten Türme verfügten, befanden sich zumeist die Türmer auf eben jenen Kirchen um ihren Dienst zu verrichte.  Bei größeren Ortschaften mit mehreren Pfarrkirchen, Stadttoren und somit mehreren möglichen Angriffspunkten gab es mehrere Türmer, um das Gebiet allumfassend überblicken zu können. Interessanterweise war vielerorts (sehr gut dokumentiert beispielsweise für die niedersächsische Stadt Braunschweig ) die Dienstzeit des Türmers auf eine Tagschicht beschränkt. Die Aufgaben zum Schutz der Bevölkerung vor Feuer und Feinden wurden dann von Nacht- und Torwächtern übernommen. Zu besonderen Anlässen (etwa in Kriegszeiten) wurden aber auch nachts die Türme besetzt. Der Beruf des Türmers kann aus heutiger Sicht als „Vollzeitjob“ verstanden werden, da es oftmals keine Gehilfen gab und in der Regel keine Zeit war, sein musikalisches Talent in anderer Form (zum Beispiel in Kapellen) auszuüben. Im Laufe der Zeit (in Braunschweig etwa im Jahre 1446) wurden neben den einfachen Signalhörnern auch weitere Musikinstrumente angeschafft, mit denen kunstvollere und komplexere Melodien gespielt werden konnten. In diesem Zusammenhang ist auch belegt, dass zunehmend mehrere Instrumente gleichzeitig eingesetzt wurden. So gab es im Jahre 1440 in Frankfurt neun „Bosunen“ (ein trompetenähnliches Blasinstrument), um den Schiffsverkehr auf dem Main mit Melodien „anblasen“ zu können. Im Zuge dessen entwickelten sich die Türmer von einfachen Signalgebern mehr zu anerkannten Musikern. Damit einhergehend ergab sich eine „musikalische Verpflichtung“: In Frankfurt zum Beispiel hatte der Musiker „Abends nach dem Ausläuten, und Mittags um 12.00 Uhr […] einige Choral=Verse vom Thurn anzublasen“  und „täglich in der Woche, und zwar Vormittags um 10.00 Uhr, und Nachmittags um 16.00 Uhr, mit der Trompete, der bisherigen Gewohnheit nach, das Mayntzer Marckt=Schiff ab= und anzublasen“. Der Berufstand des Musikers und damit auch der des Turmbläsers war – trotz seiner wichtigen Funktion – in den meisten Orten kein besonders angesehener. Der süddeutsche katholische Geistliche Ignaz Franz Xaver Kürzinger lässt in einem Lexikoneintrag zum Beruf des Türmers im „Getreuen Unterricht des Singens“ kaum ein gutes Haar an den Musikern: Turmbläser seien zumeist diejenigen, die „im Suff im Wirtshaus den Baß, höchstens die zweite Violin mitgescharrt“ und davon ab “kunstmäßig saufen“  gelernt hätten. Weiterhin ist einer Petitionsschrift zur Gehaltserhöhung des Bremer Turmbläsers Cord Frese aus dem Jahr 1764 zu entnehmen, dass der Beruf darüber hinaus so einige Gefahren bot. So gibt Frese etwa an, dass er bei einem Gewitter dem Unwetter ungesichert ausgesetzt sei und niemals wisse, ob er denn heil wieder vom Turm herunter komme. So sei in den vergangenen Jahren dreimal der Blitz in seinen Turm eingeschlagen. Außerdem beschwert er sich über die fehlende Unterstützung durch Gehilfen, da ihm eine „Brustkrankheit“ das Spielen von Blasinstrumenten zu Weilen schwer und schmerzhaft mache. Im Laufe der Zeit verlor der Beruf des Türmers mehr und mehr an Bedeutung, bis er im 18. Jahrhundert nach und nach vollständig verschwand. Da die Bevölkerung die musikalischen Darbietungen aber sehr schätzte, wurde der Brauch des Turmblasens entweder beibehalten oder später wieder eingeführt, ohne dass die sonstigen Funktionen des Türmers noch von Belang wären.

Literatur

  • Greve, Werner: Braunschweiger Stadtmusikanten. Braunschweig, Stadtarchiv, 1991.
  • Rettelbach, Simon: Trompeten, Hörner und Klarinetten in der in Frankfurt am Main überlieferten ordentlichen Kirchenmusik Georg Philipp Telemanns. Tutzing, Schneider, 2008.
  • Rosteck, Oliver: Bremische Musikgeschichte von der Reformation bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Lilienthal / Bremen, Eres-Edition, 1999.
  • Walter, Sepp: Steierische Bräuche im Verlauf des Jahres. Trautenfels, Verein Schloss Trautenfels, 1997.