Schultüte

Termin

Dieser Brauch findet zur Einschulung statt.

Einstiegsinformation

Kind mit Schultüte.

Jedes Jahr im September ist es wieder so weit: Hunderttausende von Schulanfänger halten ihre Schultüte stolz in den Händen. Wäre es vor 200 Jahren noch undenkbar gewesen, so ist dieser Brauch mittlerweile nicht mehr vom ersten Schultag wegzudenken. Egal ob mit Prinzessinnen oder Piraten verziert, gefüllt ist die Schultüte immer mit vielen tollen Sachen. Doch was genau sich in der Schultüte, oder auch Zuckertüte genannt, versteckt, das ist geheim…

Ablauf

Geschichte der Schultüte

Kind mit Schultüte.

Eine eindeutiges Datum und einen genauen Ort für die Entstehung der Schultüte gibt es nicht. Allerdings gibt schon ein früher Bericht bekannt, dass „1817 ein Schüler in Jena „eine mächtige Tüte Konfekt“ zur Einschulung erhalten habe“ (Lexikon der Rituale, S.209). Schon etwas früher um 1810 wurde in Sachsen verkündet, dass „kleinen Menschen der erste Abschied vom Elternhaus mit einer „Zuggodühde“ versüßt wurde“ (ebd., S.209). 1852- knapp 40 Jahre später erschien in Dresden das Bilderbuch „Zuckertütenbuch für alle Kinder, die zum ersten Mal in die Schule gehen“. Empfohlen wurde dieses Buch sogar von der „Allgemeinen deutschen Lehrerzeitung“ (Saure Wochen, Frohe Feste, S.200). Ähnlich, aber noch einmal 70 Jahre später (1920) wurde „Der Zuckertütenbaum“ von A. Sixtus veröffentlicht.

Die Vorstellung, die beiden Büchern zu Grunde liegt, ist die des Zuckertütenbaumes, „der im Schul-Keller wachse und von dem der Lehrer für die braven Schulanfänger die Zuckertüten pflücke.“ (ebd., S.200) Eine andere Vorstellung wäre, dass es dann Zeit für die Kinder wird, zur Schule zu gehen, wenn die Früchte am Zuckertütenbaum, nämlich die Zuckertüten oder Schultüten, gereift sind.

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg der Bedarf an Zuckertüten stark an und sie gewann ab dem 20. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung.

Erich Kästner schreibt über seine Einschulung 1905:

„Herr Bremser setzte uns, der Größe nach, in die Bankreihen und notierte sich die Namen. Die Eltern standen dichtgedrängt, an den Wänden und in den Gängen, nickten ihren Söhnen ermutigend zu und bewachten die Zuckertüten. Das war ihre Hauptaufgabe. Sie hielten kleine, mittelgroße und riesige Zuckertüten in den Händen, verglichen die Tütengrößen und waren, je nachdem, neidisch oder stolz. Meine Zuckertüte hättet ihr sehen müssen! Sie war bunt wie hundert Ansichtskarten, schwer wie ein Kohleneimer und reichte mir bis zur Nasenspitze! Ich saß vergnügt auf meinem Platz, zwinkerte meiner Mutter zu und kam mir vor wie ein Zuckertütenfürst. Ein paar Jungen weinten herzzerbrechend und rannten zu ihren aufgeregten Mamas. Doch das ging bald vorüber. Herr Bremser verabschiedete uns; und die Eltern, die Kinder und die Zuckertüten stiefelten gesprächig nach Hause. Ich trug meine Tüte wie eine Fahnenstange vor mir her. Manchmal setzte ich sie ächzend aufs Pflaster. Manchmal griff meine Mutter zu. Wir schwitzten wie die Möbelträger. Auch eine süße Last bleibt eine Last.“ (Kästner, S.89ff.)

Ein wunderbarer Beleg hierfür, dass Schultüten auch schon vor über 100 Jahren Kinder- und Erwachsenenherzen erfreuten. Doch wie ging es weiter mit der Zuckertüte?

Werbung für die Schultüte.

Um 1910 begann schließlich ihre industrielle Fertigung. Erster Fabrikant war vermutlich Carl August Nestler im erzgebirgischen Ort Wiesa.

Wie Kästner schilderte, hatte es der Schulanfänger nicht leicht, doch trotzdem wurde die Schultüte nach und nach als Initiationsritual fester Bestandteil des ersten Schultages. Interessant dabei ist, dass sich die Zuckertüte vom Norden Deutschlands erst langsam in den Süden bewegte.

Bausinger, der sich ausführlich mit der Thematik der Schultüte auseinandersetzte, belegt, dass „1932 Schultüten in den protestantischen Landschaften Thüringens, Sachsens und Schlesiens verbreitet [waren], im Süden des deutschsprachigen Raums aber noch unbekannt.“(Das neue Brauchbuch S.232) Zwei unterschiedliche Aussagen von Zeitzeuginnen bestätigen dies: Frau E., die 1932 in Görlitz (also im Osten Deutschlands) eingeschult wurde, berichtete von einer großen Schultüte und davon, dass jeder in der Klasse eine Schultüte bekam; Frau R., eingeschult 1934 in München, hatte nur eine kleine Schultüte und konnte sich erinnern, dass nur wenige ihrer Mitschüler ebenfalls eine Tüte hatten.

Wichtig ist auch, dass sich der Brauch der Schultüte zuerst in den Städten durchsetzte. Hier zeigte die Schultüte das „Interesse des bildungsbeflissenen Bürgertums am Schulbesuch seiner Kinder“ (Saure Wochen, Frohe Feste S.200). Auf dem Land wurde dieser Tag zu Beginn nicht besonders hervorgehoben, wurde der Schulbesuch meist als überflüssig angesehen. Hier gab es allenfalls eine große „Kuchenbrezel“ für die ganze Klasse oder aber kleine Schultüten vom Lehrer, um die Neulinge zu motivieren. Während des Nationalsozialismus verschwand dieser Brauch nicht. Die Anhänger des NS- Regimes versuchten vielmehr die individuellen Schultüten durch eine „Einheitstüte“ zu ersetzen. Dieser Versuch war jedoch relativ erfolglos.

Wie bereits erwähnt, verbreitete sich der Brauch In der Zeit nach dem Nationalsozialismus immer mehr im Süden Deutschlands. Der Volkskundler Bausinger spricht bei der Ausbreitung der Schultüte von „zwei Schüben“. Der erste lag vermutlich direkt nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, da auch in Österreich nach 1938 immer mehr Schultüten Einzug fanden.(Leopold Schmidt, der diesen Brauch in Österreich detailliert untersuchte schreibt 1964 jedoch, „Dass die Ausbreitung der Schultüte in Österreich noch im Fluss sei“, Das neue Brauchbuch, S.232) Ein zweiter Schub fand vermutlich in den 50er Jahren gleichzeitig mit der Wohlstandswelle statt.  Hier hat sich vermutlich auch die „Zuckertüte“ in die „Schultüte“ verwandelt- auf Grund von gesundheitspolitischen Diskussionen.

In der DDR bekamen die Schulanfänger oftmals sogar zwei Tüten: eine Zeitzeugin berichtet von ihrer Einschulung 1974, dass sie bei einem Zuckertütenfest im Kindergarten nach der Aufführung der Geschichte des Zuckertütenbaumes eine erste kleine Schultüte erhalten hatte und am ersten Schultag nochmal eine große, von den Eltern gefüllte Zuckertüte. Sie erinnert sich ebenfalls an ein großes Fest am ersten Schultag.

Während das Schulkind am Anfang, als die Schultüte noch im Kommen war, meist eine Schultüte von den Paten geschenkt bekommen hatte, so bekommt heutzutage ein Kind im Durchschnitt 7 Schultüten, so Roth, Geschäftsführer der Firma Roth Edition (www.schulrecht-heute.de). Dabei stammt die größte meist von den Eltern, während kleinere Neben- Schultüten von Paten, Verwandten und Bekannten geschenkt werden. Im Laufe der Jahre hat sich die Schultüte nun bundesweit zu einer festen Größe am ersten Schultag entwickelt und ist nicht mehr wegzudenken. Jeder kennt mittlerweile dieses Bild des stolzen Erstklässlers mit Schulranzen und Schultüte, die beide fast größer sind, als er selbst.

Zur Bedeutung der Schultüte

Kind mit Schultüte.

Die Schultüte hatte und hat unterschiedliche Bedeutungen, vor allem gesellschaftlicher und pädagogischer Art. Wie in der Geschichte schon erwähnt, war die Schultüte früher ein Zeichen des Bürgertums dafür, dass es an der Bildung seiner Kinder interessiert war. Man könnte hier von der Schultüte als „Statussymbol“ sprechen. Nicht nur die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, sondern bestimmt auch der Beginn der maschinellen Fertigung führten dazu, dass sich dieser „Status“ der Schultüte verlor und die Schultüte einfach ein Geschenk zum Schulbeginn wurde.Was früher wie heute gleich war ist die pädagogische Bedeutung. Zum einen soll die Schultüte die Kinder für die Schule motivieren. Denn ist es nicht schön, belohnt zu werden, „einfach“ nur zur Schule zu gehen?

Zum anderen soll die Schultüte auch einen gewissen Trost spenden. Kellermann zieht hier den Vergleich zu den Storchentüten, „die Kinder bei der Geburt eines Geschwisterchens angeblich vom Storch zum Trost mitgebracht bekamen.“ (Saure Wochen, Frohe Feste, S.200) Schließlich beginnt mit dem ersten Schultag der ‚Ernst des Lebens‘, Kinder verlassen die vertraute Umgebung und müssen oft in einem neuen sozialen Umfeld orientieren. Die Schultüte erleichtert einem das enorm. Zu guter letzt kann die Schultüte als ein Symbol für den Unterschied zwischen Kindergartenkind und Schulkind, aber auch zwischen Schulanfänger und älteren Schülern gesehen werden. Hier dient sie als klare Abgrenzung und hilft dem Neuling eventuell, sich schneller in seiner Rolle als Schulkind einzufinden. Die wichtigste Bedeutung hat die Schultüte jedoch für das Kind selbst: endlich ist es groß, oder- um auf den „Zuckertütenbaum“ zurück zugreifen- reif für die Schule.

Vom Unterschied zwischen West und Ost

Wie in der Geschichte schon beschrieben, hat die Schultüte eigentlich im Osten Deutschlands ihre Wurzeln. Doch auch noch heute, nach knapp 200 Jahren, gibt es einige kleine Unterschiede.

Wie vorher schon erwähnt wurde und wird in den neuen Bundesländern der Schulanfang meist größer gefeiert. Oft kommt hier die ganze Familie zusammen und geht zum Essen, während im Westen Deutschlands eher daheim gefeiert wird.

Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die Schultüten in den alten Bundesländern kleiner sind. Ganze 15 cm weniger misst die westdeutsche Schultüte! So beträgt die Gesamtgröße hier 70 cm im Vergleich zu den stolzen 85cm der Schultüte in den neuen Bundesländern.

Nicht nur in der Länge unterscheiden sich die Schultüten, auch die Form ist verschieden: Die beliebtesten Modelle sind in den neuen Bundesländern sechseckig, die in den alten rund. Wie sich dieser Unterschied erklärt, ist unklar.

Ursula Nestler, von Deutschlands größtem Schultütenhersteller Nestler GmbH meint dazu: „In Prospekten unserer Firma tauchen sechseckige Schultüten erstmals in den 1930er Jahren auf, vorher waren sie rund. Meine persönliche Theorie ist, dass mit der Teilung Deutschlands der eckige Trend im Osten erhalten blieb, während die Entwicklung im Westen wieder zur runden Form ging, Das ist auch nach der Wende so.“ Bei der runden Schultüte werden zudem die Kostbarkeiten eher mit Filz versteckt, bei der sechseckigen meist mit Borte und Tüll.

Die Gestaltung der Schultüte

Kind mit Schultüte.

Egal ob rund oder sechseckig, die Schultüte ist immer gleich aufgebaut: an den Spitzkegel schließt eine Bedeckung an, außen ist sie besonders verziert.

Die Motive wechselten und wechseln häufig, je nachdem was gerade modern und „angesagt“ war, bzw. ist. So gab es anscheinend auch besondere Schultüten zum Geburtstag des deutschen Kaisers, später mit nationalsozialistischen Symbolen und in DDR zu Ehren des Sozialismus.

Eine Schultüte mit Max und Moritz 1961.

Heute noch ist es ähnlich: Nicht selten finden sich Helden aus Buch, Film und Fernsehen, z.B. Shaun das Schaf oder Prinzessin Lillifee auf einer Schultüte wieder. Schaut man sich aktuelle Modelle an, entdeckt man verschiedenste Motive: eher für die Jungen u.a. Fußball, Piraten, StarWars, „Die Wilden Kerle“ oder der Klassiker Feuerwehr. Für die Mädchen gibt es u.a. Barbie, Pferde in allen Variationen, Hannah Montana und Disneys Arielle. Allgemein werden die maschinell gefertigten Schultüten immer aufwändiger und ausgefallener.

Trotz der für Kinderherzen sicherlich unwiderstehlichen Angebote der Industrie, ist die Alternative „selbstgemacht“ nicht zu unterschätzen. Dabei sind der Kreativität der Schenkenden keine Grenzen gesetzt. Wer sich bei der Gestaltung unsicher ist, findet zahlreiche Hilfestellungen. Bei einem namhaften Online- Versand finden sich über 1000 Ergebnisse zu Bastelbüchern für Schultüten. In anderen Katalogen werden sogar ganze Bastelsets angeboten.

Wer also bei den fertigen Schultüten nicht fündig wird, hat hier bestimmt die Chance, Ideen für eine unverwechselbare Schultüte zu bekommen. Oder man tauscht sich aus, wenn man sich zum kollektiven Schultütenbasteln im Kindergarten trifft.

Die Füllung der Schultüte

Der letzte, aber wohl spannendste Punkt, will nun versuchen, das Geheimnis um die Füllung der Schultüte zu lüften. Ist die bis zu 85 cm hohe Schultüte tatsächlich bis in die Spitze mit kleinen Überraschungen und Leckereien gefüllt? Würde sie dann nicht zu schwer werden für die Schulkinder?

Während des zweiten Weltkriegs und kurz danach war es vermutlich so, dass die Tüten mit Zeitungspapier, Holzwolle oder Kartoffeln gefüllt waren und nur oben auf eine Lage Kekse und Gebäck lag, um die Schultüte als Symbol zu erhalten. Das war wahrscheinlich der Grund, warum man nicht IN die Schultüte schauen durfte. Im Laufe der Jahre hat sich die Füllung der Zuckertüte grundlegend verändert. Noch zu Zeiten der „Zuckertüte“ waren es, wie der Name schon sagt, hauptsächlich Naschereien und Süßkram. Nüsse, Obst und eben ein paar Kekse waren üblicherweise mit dabei. Das berichten auch die beiden Damen, die Anfang der 30er Jahre eingeschult wurden. Doch mit Änderung des Namens, vollzog sich auch eine Änderung in der Art der Füllung. Die „Schultüte“ wurde und wird immer mehr mit materiellen Dingen gefüllt.

Zahlreiche Ratgeber in den Medien informieren darüber, was man in die Schultüte tun kann: u.a. etwas Nützliches für die Schule (z.B. Turnbeutel, Trinkflasche, Stifte), etwas Nützliches für den Schulweg (z.B. Reflektoren, Leuchtweste, Regenschirm – hier ist der willkommene Begleiteffekt: die Spitze knickt nicht um!), etwas Nützliches für daheim (z.B. Wecker, Stundenplan), die obligatorischen Süßigkeiten und was das Kinderherz sonst noch alles begehrt (z.B. Spiele, das neue I-Phone).

Befragte Erstklässler bestätigen dies: im vergangenen September war alles dabei: von den Süßigkeiten, über die Stifte, bis zum Handy, aber nur für Fotos und Musik. Allgemein, so scheint es, wird die Schultüte mit immer mehr wertvollen Dingen gefüllt.

Inwieweit das dem Grundgedanken der Schultüte entspricht, ist fragwürdig.

Die Schultüte- nur in Deutschland?

Zu guter letzt werfen wir noch einen Blick über den Tellerrand. Wie sieht es denn in unseren Nachbarländer aus: Gibt es hier auch gefüllte Tüten für die Neulinge? Anscheinend ist es tatsächlich so, dass die Schultüte ein deutscher Brauch war und ist. Nur in unseren deutschsprachigen Nachbarländern Österreich und Schweiz gibt es ab und zu diesen Brauch. Dennoch ist er nicht so weit verbreitet wie in Deutschland.

Frau Ö., die ihrer Enkelin zur Einschulung in Zürich eine Schultüte mitbrachte, erzählte, dass ihre Enkeltochter die einzige in ihrer Klasse mit einer Schultüte war. Die anderen Kinder fragten ganz verwundert, was sie denn da habe.

Doch wer weiß, vielleicht wird sich dieser Brauch noch so weiterentwickeln, dass wir in zehn Jahren auch in Italien Schultüten vorfinden…

Literatur

  • Kästner, Erich (1957): Als ich ein kleiner Junge war. Dressler Verlag Hamburg 2011.
  • Weber-Kellermann, Ingeborg: Saure Wochen, Frohe Feste. C.J. Bucher Verlag München und Luzern 1985.
  • Wolf, Helga Maria: Das neue Brauchbuch. Österreichischer Kunst- und Kulturverlag Wien 2000.
  • Wieprecht, Volker/ Skruppin Robert: Das Lexikon der Rituale. Rowolth-Berlin Verlag GmbH Berlin 2010.